Possehl-Preis für Internationale Kunst 2022
MAPPING THE WORLD
Matt Mullican
2022 wurde Matt Mullican (*1951) der Possehl-Preis für Internationale Kunst verliehen. Die Jury mit Mitgliedern international bekannter Kunstinstitutionen würdigte damit das Lebenswerk des amerikanischen Künstlers, das bis heute maßgeblichen Einfluss auf jüngere Künstlergenerationen ausübt. Mit Mullican wurde einer der wegweisenden Vertreter der so genannten Pictures Generation geehrt, die ab Mitte der 1970er Jahre den Einfluss massenmedialer Bilder in der alltäglichen Wahrnehmung untersuchten und sie somit als festen Bestandteil künstlerischer Auseinandersetzungen deklarierten. Der Künstler beschäftigt sich mit recht einfach klingenden, aber dennoch sehr komplexen existenziellen Fragen: Woher komme ich? Wohin gehe ich? Er stellt Fragen nach dem Sinn des Lebens und der Ordnung der Welt und arbeitet seit Jahrzehnten an einer künstlerischen Systematisierung seiner Weltsicht, die er in medial vielfältigen und zum Teil raumgreifenden Installationen zu erfassen versucht. Sein Werk ist vielschichtig angelegt, es reicht von Malerei über verschiedene druckgrafische Techniken bis hin zu bildhauerischen Arbeiten und Performances; seine Ausstellungen interagieren stets mit den räumlichen Begebenheiten. Mullicans Vorreiterrolle hinsichtlich der Deutung von Bildern und deren Wirkmacht ist in unserem digital geprägten Zeitalter immer noch von besonderer Relevanz.
Im Zusammenhang mit der Auszeichnung erhielt der Künstler die Möglichkeit, über den Zeitraum von sechs Monaten an vier verschiedenen Orten in Lübeck einen umfassenden Einblick in fünfzig Jahre Kunstschaffen zu geben. Kurator des Gesamtprojekts war Dr. Oliver Zybok.
MAPPING THE WORLD
FIVE COLOR GARDEN
Matt Mullican eröffnete seine Gesamtwerkschau MAPPING THE WORLD in Lübeck mit dem FIVE COLOR GARDEN: einer kreisrunden Bepflanzung aus mehrfarbigen Blumen auf der Rasenfläche vor dem Lübecker Dom. Zum Einsatz kamen schwarze Petunien, rote Fleißige Lieschen, weißes Steinkraut, blaues Männertreu und die gelbe Goldmarie. Mit dieser Arbeit setzte der Künstler nach einer floralen Installation in Antwerpen erstmals auch in Deutschland seine Farb- und Formenwelten in einer pflanzlichen Arbeit um.
Die Nähe zum Sakralbau schlägt einen Bogen zum Interesse des Künstlers an spirituellen Fragen, das sich an verschiedenen Stellen seines Schaffens zeigt. Hier erkennt man die für ihn typische Semantik aus einfachen Formen und den Farben, die in seiner „Kosmologie“ jeweils eine eigene Bedeutung haben: Grün für die Materie, Blau für unsere Alltagswelt, Schwarz und Weiß für Sprache, Rot für das Subjektive und Gelb für die Künste bzw. das Bewusstsein. Neben der farblichen Orientierung spielen für ihn einfache geometrische Formen wie Kreise, Dreiecke und Quadrate eine wichtige Rolle, da sie sich in ihrer Klarheit auf einfache Art und Weise symbolhaft vermitteln lassen und in ihrer allgemeinen Deutung bereits inhaltlich aufgeladen sind. So stellt der Kreis sinnbildhaft das Lebendige per se dar. Diese klare Strukturierung zeigte sich auf der Domwiese beispielhaft in der reduzierten Farb- und Formgebung und durchzieht alle Präsentationsorte in der Hansestadt.
Die Blumeninstallation wurde entsprechend der Wünsche des Künstlers durch die Firma Marli umgesetzt und gepflegt, ein gemeinnütziges Lübecker Unternehmen für Menschen mit Behinderungen.
MAPPING THE WORLD
FIVE WORLD CHART ON BRICK
Auf der Dachterrasse des Europäischen Hansemuseums wurde die Kreidearbeit FIVE WORLD CHART ON BRICK realisiert. Hier leitete Matt Mullican aus seiner Fünf-Welten-Kosmologie einen Stadtplan ab. Er nahm damit ein Motiv aus den 1980er Jahren wieder auf und zeigte eine stark vereinfachte Form einer Stadtentwicklung, die der Künstler durch das Weißen gezielt gewählter Steine auf die Oberfläche des Backsteinneubaus übertrug. Auch den Stadtraum selbst betrachtet er als skulpturale Arbeit, als eine Art „Übung darin, die Welt zu katalogisieren, [...] als Theater der Erinnerung.“ Entscheidend ist dabei für ihn, wie der menschliche Körper die Strukturen einer Stadt bestimmt, sie sich zu eigen macht oder auch von ihnen eingesperrt, gepeinigt oder gar unter ihnen begraben wird.
MAPPING THE WORLD
CHURCH
In der Ausstellung CHURCH in der Universitäts- und Kulturkirche St. Petri zu Lübeck wurde mit dem „Berlin Block“ eine monumentale Arbeit aus 211 großflächigen Leinwänden gezeigt, die jeweils zu Tafeln von sechs Bildern zusammengestellt waren, und die den Kirchenraum in seiner besonderen Geometrie und Höhe vereinnahmten und betonten. Schwarze Zeichen auf weißem Grund, in der für Mullican charakteristischen Frottagetechnik, waren das Leitmotiv dieser riesigen sprachlichen und semantischen Reise durch zahlreiche Themen des Künstlers. Verhandelt wurde auch hier das Verhältnis zwischen Raum, Bild und Erlebnis, ein zentrales Anliegen im Werk Matt Mullicans.
MAPPING THE WORLD
50 YEARS OF WORK
In der Kunsthalle St. Annen wurde in der Ausstellung 50 YEARS OF WORK auf eindrucksvoll verdichtete Weise die mediale Vielfalt Matt Mullicans in zahlreichen Bezügen dargestellt. Neben Malereien und Frottagen, zum Teil in ebenfalls übergroßen Dimensionen, wurden unter anderem Skulpturen aus Stahl, Fotografien, Objekte aus Glas, Performances, Videos und Computeranimationen in installativen, auf die jeweilige örtliche Umgebung eingehenden Arrangements gezeigt. Im Zentrum der Ausstellung stand das raumgreifende Werk „Representing the work“ (2019), das in seinen Symbol-, Form- und Farbkonstellationen als Gesamtüberblick über sein Schaffen von Matt Mullican konzipiert worden ist.
PERFORMANCE UNDER HYPNOSIS. WAKING UP.
Seit Ende der 1970er Jahre hat Matt Mullican sich intensiv mit Performances unter Hypnose beschäftigt. Sein Interesse an der Trance wurde durch seine Arbeit mit der Strichfigur Glen geweckt, die eine Art alter ego des Künstlers darstellt. In modellhaften Strichzeichnungen begann Mullican, die Existenz der von ihm geschaffenen Figur zu beweisen: Indem er das fiktive Leben Glens zeichnerisch dokumentierte, gewann die Figur zunehmend ein Eigenleben. Mit dieser umfangreichen Zeichnungsserie versuchte er, dem Verhältnis von künstlerischer Arbeit und Prozessen der Projektion auf die Spur zu kommen. In den 1980er Jahren stand demgegenüber die Entwicklung seines komplexen Zeichensystems im Zentrum von Mullicans Interesse. Doch griff er 1996 das Hypnoseprojekt mit einer Serie von 15 Performances in Brüssel wieder auf, die er auf Video festhalten ließ. Im Zustand der Trance vertritt Mullican seither jene andere Person, über die er als Figur in seinem Werk nachdenkt. Durch sie möchte Mullican das Leben als ein aus unseren Erinnerungen und Phantasien wachsendes Gebilde erfahrbar machen. Dabei geht es ihm nicht um einen subjektiven psychoanalytischen Prozess, sondern um typische Situationen, in welchen – innerhalb eines Kontexts bedeutungsvoller Symbole – gehandelt wird.
Publikation
Matt Mullican MAPPING THE WORLD
Der Katalog zur Gesamtschau Matt Mullicans wurde von Oliver Zybok im Auftrag der Possehl-Stiftung herausgegeben. Er ist erhältlich über den Verlag der Buchhandlung Walther König (www.buchhandlung-walther-koenig.de). Mit Textbeiträgen von Lorenzo Benedetti, Jana Bernhardt, Marianne Wagner und Oliver Zybok (144 Seiten, Deutsch/Englisch).