Possehl-Preis für Internationale Kunst 2019
TABULA RASA
Doris Salcedo
2019 erhielt die Kolumbianerin Doris Salcedo (*1958) den ersten Possehl-Preis für Internationale Kunst. Die international renommierte Künstlerin beschäftigt sich in Objekten, Skulpturen und großen ortsspezifischen Installationen mit den Auswirkungen von Gewalt und Ausgrenzung in ihrer Heimat und anderen Regionen der Welt. Salcedo finde, so die international besetzte Jury, „für politische Herrschaftssysteme, Rassismus und systematische Ungleichbehandlungen poetische Bilder“, und ihr Werk sei „von höchster Relevanz für unsere Gegenwart.“ Die Auszeichnung wurde ihr in der Lübecker Kunsthalle St. Annen im Rahmen der Eröffnung der von Dr. Oliver Zybok kuratierten Ausstellung TABULA RASA – ihrer ersten Einzelausstellung in Deutschland – verliehen. Kurz danach erhielt sie den höchstdotierten Preis der Welt für zeitgenössische bildende Kunst, den Nomura Art Award.
Fragile Kunst gegen das Vergessen
Wo Andere sich abwenden, beginnt Salcedos Arbeit: Mit großer Sensibilität thematisiert sie in ihren Skulpturen und Installationen die tragischen Folgen von Gewalt als Konsequenz politischer und ökonomischer Herrschaftsansprüche und führt dabei die Betrachter:innen auf die emotionale Ebene der Opfer und ihrer Angehörigen. Der seit fünf Jahrzehnten währende, bürgerkriegsähnliche Konflikt in ihrer Heimat Kolumbien ist Ausgangspunkt zahlreicher Projekte Salcedos. Sie thematisiert beispielsweise in Arbeiten wie „Tabula Rasa", einer Werkreihe mit Tisch-Objekten, deren Holzoberflächen von äußerst filigranen Rissen durchzogen sind, die zahlreichen Schicksale vergewaltigter Frauen oder schafft in Werken wie „Disremembered" der Trauer um geliebte Menschen - in diesem Falle durch Waffengewalt umgekommene US-amerikanische Kinder und Jugendliche - einen Raum. Den Umgang Europas mit Migrant:innen nimmt sie 2007 in „Shibboleth“ (Tate Modern, London) in den Blick und hinterfragt mit einem langen und tiefen Riss im Betonboden der Turbinenhalle die Abschottungs- und Ausgrenzungsmechanismen der sogenannten ,ersten Welt'. Werke wie „A Flor de Piel“, ein großes Tuch aus konservierten und filigran miteinander vernähten Rosenblättern, und „Plegaria Muda“, übereinander gestapelte Holztische, aus denen feine Grashalme wachsen, rufen Stärke, Schönheit und Fragilität des Lebens in den Sinn und erinnern zugleich an die traurigen Schicksale einzelner Menschen.
Salcedo arbeitet nicht nur in künstlerischer Hinsicht äußerst umfassend und präzise, sondern auch im Hinblick auf die praktische Umsetzung ihrer Projekte, so bindet sie z.B. Opfer von Gewalt in die Erstellung ihrer Werke ein und verleiht ihnen dadurch eine Stimme. Die Künstlerin lebt in Bogotá, wo sie 2019 ein „Anti-Monument“ aus einem Teil der rund 13.000 von den FARC-Rebellen abgegebenen Waffen vollendet hat. Eingeschmolzen und bearbeitet, dienen diese nun als Bodenplatten für ein Museum im Zentrum der Stadt, als Ort der Reflexion der langen Jahre gewalttätiger Konflikte in Kolumbien.
Publikation
Der Katalog zur ersten Einzelschau Salcedos in Deutschland wurde von Oliver Zybok im Auftrag der Possehl-Stiftung herausgegeben. Er ist erhältlich über den Verlag der Buchhandlung Walther König (www.buchhandlung-walther-koenig.de; 103 Seiten, Deutsch/Englisch)